Learning and Development

Leitungsstile

Die ideale Rolle einer Tutorin bzw. eines Tutors ist die eines Prozesscoaches, d.h. einer Person, die nur dann interveniert, wenn die Studierenden zu scheitern drohen, und dies in einer möglichst wenig invasiven Form (vgl. Prozessbegleitung). Es stellt sich jedoch die Frage, wie Tutoren/innen agieren können und ggf. sollten, wenn die Studierenden noch nicht über alle erforderlichen Kompetenzen verfügen und/oder es nicht zu den zentralen Learning Outcomes für die Studierenden zählt, den Umgang mit eigenem Scheitern beim Problemlösen zu lernen. Eine Möglichkeit ist, den Studierenden Hilfsmittel an die Hand zu geben, z.B. eine Checkliste mit Fachfragen zur Analyse der Aufgabenstellung oder eine Literaturliste für die Beschaffung von Informationen. Diverse Kompetenzen lassen sich aber nicht durch eine Checkliste ersetzen, z.B. die Kompetenz zur Reflexion und Korrektur des eigenen Vorgehens bei der Problembearbeitung. In diesem Fall darf bzw. sollte eine Tutorin Hilfestellung geben (Müller 2008, S. 31):

Ziel ist es, einerseits den Studierenden Handlungsoptionen anzubieten, damit diese explorativ und kreativ sein können, und andererseits diese wieder einzuschränken, um den Lernprozess in bestimmte Bahnen zu lenken.

Je nachdem wie viele Kompetenzen die Studierenden mitbringen, wird eine Tutorin/ein Tutor mehr oder weniger Handlungsoptionen anbieten und den Lernprozess unterschiedlich stark lenken müssen. Die nachfolgenden Abbildungen geben einen Überblick über die Handlungsoptionen, aus welchen Sie in Abhängigkeit der Ausgangslage wählen können, um die Studierenden vor dem Scheitern zu bewahren:

Leitungsstile bei tutorialer Unterstützung von POL

Die aktivste und massivste Form der Hilfestellung ist die Korrektur. In diesem Fall nimmt die Tutorin/der Tutor die Rolle als klassische „wissende“ Lehrperson ein, d.h. sie macht eine Aussage mit Wahrheitsanspruch. Beispiele für derartige Aussagen sind z.B. „Sie haben einen wichtigen Aspekt bei der Problemanalyse vergessen, so können Sie das Problem nicht lösen“, „‘Akrophobie‘ heisst ‚Höhenangst‘ und nicht ‚Turngeräteangst‘“ oder „diese Information ist unzutreffend, mit einer solchen Dosis dieses Medikaments bringen Sie den Patienten um“. Die Beispiele zeigen: Diese Aussagen sind zwar begründet, aber die Begründung wird als unhinterfragbare Aussage dargestellt. Derartiges werden Sie als Tutor/in nur dann tun, wenn die arbeitende Gruppe in unmittelbarer Gefahr ist, bei der Problembearbeitung bzw. -lösung so gründlich zu scheitern, dass sie im Anschluss demotiviert sein wird, sich überhaupt noch mit Problembearbeitungen oder -lösungen zu befassen.

Mit einer solchen Aussage übernehmen Sie die Gesamtverantwortung für die Situation, d.h. für die diskutierten Inhalte, den Prozess und das Ergebnis der Problembearbeitung. Diese Rolle einer Lehrperson ist den Studierenden aus anderen Lehrveranstaltungen jenseits des POL (und sicher auch aus der Schule) bekannt und eine für sie ausgesprochen „ressourcenschonende“ (wenn auch wenig lernwirksame): die Lehrperson sagt aufgrund ihrer Fachexpertise was richtig ist, man hält sich als Student/in daran und wenn bei der Arbeit mit diesem „richtigen Inhalt oder Vorgehen“ etwas nicht funktioniert, ist hierfür die Lehrperson verantwortlich. Das ist für Problembearbeitungen und -lösungen deswegen gefährlich, weil es ja nicht nur eine und oftmals auch keine „beste“ Lösung gibt, sondern immer noch eine der Situation und auch der eigenen Kompetenz angemessene, für die ein Mensch selber die Verantwortung übernehmen muss.
Wenn Sie eine derartige Aussage haben machen müssen ist es daher sehr wichtig, dass Sie den Studierenden deutlich machen, dass Sie ihnen lediglich geholfen haben, nicht zu scheitern, dass die Studierenden ansonsten aber auf guten Wegen sind und Sie sich jetzt also wieder in die Rolle des Coaches zurückziehen können und auch werden.

Eine etwas weniger massive Form der Hilfestellung ist die Intervention als Fachexperte bzw. Fachexpertin. In dieser „direktiven“ Rolle geben Sie einen Expertenkommentar ab oder stellen eine Fachfrage, z.B. „Sie haben sich dazu entschlossen, 25 Lernfragen zu formulieren, meinem Eindruck zufolge ist das eine sehr grosse Anzahl. Wie werden Sie sicherstellen, dass Sie alle Fragen hinreichend beantworten können?“ oder „In der Aufgabenstellung steht der Hinweis, dass die Erhebung, die Sie durchführen sollen, in einem renommierten Journal publiziert werden soll. Ich denke, die Fachkollegen/innen werden an Ihrem aktuell gewählten Untersuchungsdesign diverse Punkte auszusetzen haben. Wie werden Sie damit umgehen?“. In diesem Fall geben Sie zwar ein fachliches Urteil ab, geben die Verantwortung dann aber an die Studierenden zurück, die jetzt hoffentlich gute Argumente finden werden, um mit Ihrer Stellungnahme umzugehen. Die Studierenden könnten also rein theoretisch bei ihrem gewählten Lösungsweg bleiben, allerdings jetzt bewusst und fachlich begründet.

Eine noch weniger invasive Art der Intervention ist die moderierende. In dieser Rolle beschreiben Sie lediglich was Ihnen auffällt und geben die Verantwortung dann mit einer Frage wieder an die Studierenden zurück, z.B. mit dem Hinweis „Wir sind noch bei der Problemdefinition, Sie haben aber schon etliche Lösungsvorschläge formuliert. Möchten Sie diese ggf. notieren, damit sie nicht vergessen werden?“ oder mit dem Hinweis „Sie haben noch 15 min Zeit. Wie können Sie dafür sorgen, dass Sie in dieser Zeit noch Ihre Lernfragen formulieren?“.

Die am wenigsten invasive Rolle ist die des Coaches. Wenn die Studierenden beispielsweise bei der Analyse der Aufgabenstellung und Definition des Problems einen wichtigen Aspekt übersehen haben, wird er oder sie ggf. nachfragen, wie sie denn den Begriff bzw. die Beschreibung deuten, die in der Aufgabenstellung auf diesen Aspekt hindeutet. Oder wenn die Studierenden Lernfragen so allgemein formuliert haben, dass sie sie nicht werden beantworten können, wird sie oder er nachfragen, über welche Quelle sie denn zu dieser Information kommen werden.

Die Möglichkeit und Sinnhaftigkeit einer solch zurückhaltenden Rolle des Tutors bzw. der Tutorin setzt allerdings diverse Kompetenzen bei den Studierenden voraus, insbesondere:

  • Die Studierenden müssen in der Beschreibung einer realitätsnahen, d.h. häufig schlecht strukturierten Situation ein Problem fachlich adäquat erkennen und analysieren können.
  • Sie müssen die Fachthemen identifizieren und ordnen können, die für die Problembearbeitung bzw. -lösung relevant sind. Das setzt Etliches an Fachkenntnissen und einen Überblick über die Zusammenhänge der Fachthemen voraus.
  • Sie müssen die Vorgehensweise der Problembearbeitung bzw. -lösung beherrschen.
  • Und sie müssen imstande sein zu erkennen, wenn sie von dieser Vorgehensweise abkommen, und eigenständig zu ihr zurückfinden können.
  • Sie müssen im Team arbeiten können.
  • Voraussetzung dafür sind hinreichende Kommunikationsfähigkeiten.
  • Sie müssen sich selber motivieren bzw. motiviert halten können, auch wenn die Bearbeitung bzw. der Lösungsweg anspruchsvoll oder anstrengend ist.
  • Sie müssen eine Gruppendiskussion steuern können. Teilweise wird hierfür eine studentische Diskussionsleitung bestimmt.
  • Sie müssen die Zwischenergebnisse ihrer Arbeit hinreichend für sich dokumentieren können, um bei der weiteren Arbeit nichts Wichtiges zu vergessen. Hierfür wird teilweise eine studentische Protokollführung bestimmt.
  • Sie müssen gute, d.h. präzise und konkrete Lernfragen formulieren können.
  • Sie müssen fachlich sinnvoll Prioritäten setzen können, um die wichtigsten Lernfragen identifizieren zu können, anstatt sich mit einer zu grossen Zahl an Detaillernfragen zu überfordern. 
  • Sie müssen angemessen recherchieren können, um zu suffizienten Informationen zu kommen.
  • Sie müssen sich selbst motivieren und disziplinieren können, um hinreichend Informationen zu beschaffen, sich aber nicht in Details zu verlieren.

Ziel der Arbeit mit POL ist, dass Sie als Tutor/in in der Rolle als primär beobachtender Coach bleiben und den Studierenden im Anschluss an das POL eine positive Rückmeldung zu Prozess und Ergebnis geben können. Wenn Sie am Ende des Studiums oder einer Lehrveranstaltung nichts mehr als Ihr Feedback geben müssen als die Aussage „das war hervorragend“, können Sie die Studierenden guten Gewissens aus dem Lehr-/Lernszenario, dem Modul oder dem Studiengang entlassen. Wenn Sie mehr intervenieren, dann nur deswegen um den Studierenden dabei zu helfen, diejenigen Kompetenzen aufzubauen, die sie benötigen, um Probleme fachlich adäquat bearbeiten bzw. lösen zu können. Zielvorstellung ist also ein immer weitergehender Rückzug aus der Rolle als Lehrperson in die Rolle als Coach („fading“, s. Begriff 'cognitive apprenticeship' im Online-Lektion Psychologie und Pädagogik).

Damit das möglich ist, können Sie mit Studienanfängern und -anfängerinnen aber getrost das gesamte Procedere des „fading out“ umsetzen:

  • Vormachen (d.h. den Studierenden eine beispielhafte Problembearbeitung vorzeigen) („modeling“)
  • Die Studierenden mit Ihrer Unterstützung selber ein Problem bearbeiten lassen („scaffolding“)
  • Die Studierenden an weiteren Aufgabenstellungen weiter üben lassen und sich hierbei immer mehr aus deren Arbeit zurückziehen, je kompetenter sie bei der Problembearbeitung werden („fading“) und schliesslich
  • nur noch beobachten und nur im Notfall helfen („coaching“) (Collins, Brown & Newman 1989).

Wichtig ist, dass Sie jenseits der Arbeit der Studierenden mit POL Ihre Rolle als Lehrperson klar einnehmen und den Studierenden beim Lernen helfen, indem Sie im Vorfeld eine plausible und engagierte Einführung in den Sinn und die Notwendigkeit der Arbeit mit POL geben und sich im Anschluss Zeit für ein differenziertes, konstruktives und ressourcenorientiertes Feedback nehmen (Müller 2008, S. 28-29).