Problemlösendes Denken
Die grundlegende Strategie für problemlösenden Denken stammt von John Dewey:
Schritt 1: Bemerken einer Schwierigkeit
Als Erstes stellt ein Mensch fest, dass er vor einem Problem steht. Dewey spricht von „a felt difficulty“. Das bedeutet laut Reusser (2005, 164):
- Spüren eines Problems: kognitive Lücke, Konflikt, Widerspruch, Ungleichgewicht, Diskrepanz zwischen Zielen und Mitteln
- Problemkonfrontation: erste, in der Regel noch unscharfe Wahrnehmung des Problems
Schritt 2: Abgrenzung der Schwierigkeit
Als nächstes wird ein Mensch versuchen, das Problem zu bestimmen. Dewey spricht von „location and definition“. Das bedeutet laut Reusser (2005):
- Problemdefinition, sprachlich-begriffliche Analyse von Gegebenheiten und Zielen
- Identifikation, Abgrenzung und Präzisierung von Teilproblemen und Erfordernissen
Dieser Schritt ist zentral für die weitere Problemlösung bzw. -bearbeitung: Wird das Problem nicht korrekt bzw. angemessen definiert, wird wahrscheinlich kein Lösungsvorschlag in die richtige Richtung führen. Die Problemverortung und -definition ist sozusagen der «Einstieg in die Eigernordwand»: wenn man eine Route für den Weg zum Gipfel gewählt hat, muss man dieser Route folgen. Und stellt sie sich als eine nicht zielführende heraus (z.B. weil ein unüberwindbares Schneebrett oder ein Felssturz den Weg versperren oder die Route gar nicht zum Gipfel führt), wird man den gesamten Weg ins Tal wieder absteigen und die Besteigung dann mit einer anderen Route neu beginnen müssen. Im Kontext von POL-Lernsettings bedeutet diese Analogie, dass dies nicht nur für Bergsteigende kräftezehrend und demotivierend ist sondern auch für Lernende, die ohne Hilfe ggf. erst bei der Synthese von in aufwändiger Recherche zusammengetragenen Informationen (vgl. Schritt 3) feststellen, dass sie zwar Informationen gefunden haben, diese aber das Problem nicht lösen helfen, weil das vermutete Problem nicht das eigentliche ist.
Schritt 3: Entstehen einer möglichen Erklärung/Lösung
Ein Mensch wird versuchen, sein bisheriges Wissen zur Problemlage dafür einzusetzen, um Hypothesen zu bilden, wie man das Problem lösen könnte. Dewey spricht von "suggestion of possible solutions". Das bedeutet laut Reusser (2005):
- Lösungsansätze suchen, Aktualisierung und Erarbeitung von Wissen
- Hypothesen generieren, Einsicht, Aha!
- Lösungs- und Arbeitsplan erstellen
Das Element «Einsicht, AHA-Erlebnis» weist darauf hin, warum Menschen mit mehr Vorkenntnissen, Erfahrungen und Problemlösekompetenzen wahrscheinlich leichter mit POL arbeiten können als Newcomer. Charles Sanders Peirce prägte für das dahinterstehende Phänomen den Begriff der «Abduktion»: ein Mensch stösst auf ein (überraschendes) Faktum und findet eine passende theoretische Erklärung dafür, die das überraschende Faktum zu einer Selbstverständlichkeit machen würde. Diese Vorgehensweise ist logisch nicht gültig, aber die Einzige, die zu «neuen Vorstellungen» führt, d.h. ohne diese Methode könnten wir nichts Neuartiges verstehen, sondern nur dasjenige, was wir eigentlich schon kennen und wissen. Wer über mehr theoretische Erklärungen verfügt und bereits mehr überraschende Fakten kennengelernt hat, für die er eine passende theoretische Erklärung finden musste, hat für diese Art des Erklärungen Findens mehr Rüstzeug an der Hand und wird dementsprechend weniger Mühe damit haben. Das erklärt, warum erfahrene Fachspezialisten/innen (seien das Mediziner:innen, Verhaltenstherapeuten:innen, Juristen:innen oder Detektive) Problemstellungen relativ mühelos bewältigen, mit denen ein:e Newcomer:in hoffnungslos überfordert ist. In der Didaktik spricht man hier vom «Matthäus-Effekt», der bereits im neuen Testament mit der Redewendung „wer hat, dem wird gegeben“ beschrieben wurde und den Robert K. Merton (1985, S. 147ff) mit «success breeds success» zusammenfasste: Je mehr Erfolge ein Mensch bei einer Tätigkeit bereits hatte, desto wahrscheinlicher werden weitere Erfolge.
Schritt 4: Durchdenken der Lösung und ihrer möglichen Konsequenzen, Umsetzung
Nun wird ein Mensch eine oder mehrere aussichtsversprechende Lösungen systematisch planen und umsetzen, Dewey spricht von «development by reasoning of the bearings of the suggestion». Das bedeutet laut Reusser (2005):
- Hypothesen, Vermutungen sorgfältig überprüfen, kritisch durchdenken
- Synthese der Lösungsschritte, Konkretisierung, Umsetzung der Lösung
Die Umsetzung der Lösung(en) selbst, die für Lernende oftmals erst einmal das Wichtigste zu sein scheint, ist nur ein kleiner Teilschritt in der systematischen Auseinandersetzung mit Lösungen: Die Verifikation oder Falsifikation einer differenzierten gedanklichen Auseinandersetzung mit der Lösungsstrategie. Doch auch wenn die Umsetzung der Lösung selbst nur ein kleiner Schritt in der Lösungsfindung ist, stellt sie den „Moment der Wahrheit" dar. Während die anderen Schritte gerade dazu gedacht sind, auszuprobieren, erfolgt mit der Umsetzung die Festlegung auf den aussichtsreichsten Weg: Wer ein Grossraumflugzeug in schwierigem Gelände notlanden muss, wird nicht erst einmal probieren, ob es auf einem bestimmten Areal funktioniert oder nicht, sondern im Interesse der vielen Menschenleben, für die er oder sie die Verantwortung trägt, detailliert und differenziert abwägen, welche Stelle und welche Vorgehensweise unter Abwägung aller relevanten Erkenntnisse die sicherste zu sein verspricht, bevor er sich an die Landung wagt.
Schritt 5: Prüfung der Lösung
Schliesslich wird ein Mensch die Lösung evaluieren und entscheiden, was davon er auch für künftige Problemlösungen übernehmen kann, Dewey spricht von «further observation and experiment leading to ist acceptance or rejection». Das heisst:
- Verifikation, Evaluation, Erprobung und Reflexion
- Entscheidung (Akzeptieren, Ablehnen), Kommunikation der Lösung
Das zeigt: der Problemlöse- bzw. -bearbeitungsprozess ist mit der Umsetzung der Lösung noch nicht abgeschlossen. Nach dem bekannten Motto «einmal ist keinmal» gilt es zu überprüfen, ob der Lösungsweg auch in anderen, vergleichbaren Fällen funktioniert, ob er vollständig oder nur partiell funktioniert hat und ob er besser oder schlechter funktioniert als andere, vergleichbare Lösungswege. Erst dann kann man begründet entscheiden, ob man diesen Lösungsweg in Zukunft häufiger nutzen wird.